Berolinas zornige Töchter
LeseprobeISBN 978-3-9819561-1-5
Berlin 2018
Wir haben abgetrieben
Die Fristenlösung von 1972
Was heißt Feminismus heute?
Meistens sind wir diejenigen, die recherchieren, Nutzer*innen unterstützen, Bildmaterial aussuchen und damit Publikationen unserer Besucher*innen möglich machen.
Mit „Berolinas zornige Töchter“ sind wir als Archiv in die Rolle der Herausgeber*innen geschlüpft. Anlass für das Projekt war das Jubiläum 50 Jahre ’68 im Jahr 2018. Unser Fokus sollte genau diese Geschichte seit ’68 aus einer feministischen Perspektive erzählen.
Als Autorin konnten wir die Schriftstellerin Annett Gröschner gewinnen, der es gelang ein Buch zu schreiben, das Berliner Geschichte komplex erzählt und die Verwobenheit zwischen Ost- und Westberlin, Vergangenheit und Gegenwart aufzeigt. Die folgenden Textausschnitte zum Kampf auf das Recht auf Abtreibung sollen einen Einblick geben.
Das Buch kann für 5 Euro in der Berliner Landeszentrale für politische Bildung erworben werden oder für 10 Euro direkt im FFBIZ.
Wir haben abgetrieben
Am 5. April 1971 erschien in der politischen Wochenzeitschrift Nouvel Observateur das « Manifeste des Salopes », unterschrieben von 343 zum Teil prominenten Französinnen, die bekannten: « J’ai avortée. » Ich habe abgetrieben. Abtreibung, Gewalt gegen Frauen und Sexualität, besonders die weibliche Homosexualität, waren die bevorzugten Themen der französischen Feministinnen, die damals schon eine breite Bewegung bildeten. Mit leichter Verspätung kam das auch in Westberlin an.
Zwei Monate später, am 6. Juni 1971, titelte die deutsche Illustrierte Stern: „Wir haben abgetrieben – und fordern das Recht dazu für jede Frau!“ Es unterschrieben 374 Frauen: „Ich bin gegen den § 218 und für Wunschkinder!“ Zu der Zeit stand auf Abtreibung in der Bundesrepublik und Westberlin noch Gefängnis bis zu fünf Jahren. Trotzdem trieben pro Jahr Hunderttausende illegal im In- und Ausland ab, oft unter Lebensgefahr. Initiiert hatte diese deutsche Antwort Alice Schwarzer, die zu dieser Zeit noch in Paris lebte und die französische Frauenbewegung gut kannte, ja ein Teil von ihr war. In ihren Memoiren „Lebenslauf“ erzählt sie, dass sie den Anruf eines Redakteurs des Nouvel Observateur bekam, der ihr ankündigte, dass die Frauenzeitschrift Jasmin sich des Themas in Deutschland annehmen wollte. Sie suchten nach einer Zeitschrift, die politischer und nicht nur auf Sensation aus war. Alice Schwarzer überzeugte einen Redakteur des Stern. Es gelang ihr, mehr als 300 Namen, inklusive Prominenz, zusammenzubringen. Dabei halfen ihr die Netzwerke der Frauen in Frankfurt, München und Berlin. Vier Wochen sammelten sie Unterschriften, für jede einzelne, die unterschrieb, ein Risiko, denn ein Erfolg war nicht absehbar. Deutschland war nicht Frankreich.
Für heutige Generationen ist kaum noch vorstellbar, was dieses Bekenntnis für all die unsichtbaren Frauen bedeutete, die über ihre existentiellen Probleme mit niemandem hatten reden können. Keine andere Frauenkampagne hat soviel Aufmerksamkeit erreicht. Für Alice Schwarzer war es der Beginn ihrer publizistischen Karriere in Deutschland.
Das Thema Abtreibung hat in Berlin über viele Jahre und über die verschiedenen Fraktionen hinweg die Frauenbewegung zusammengeführt, erweitert und für ein paar Jahre zusammengehalten. In Erinnerung blieb der Spruch: „Mein Bauch gehört mir“, der die 1970er Jahre überdauert hat und untrennbar mit der Bewegung gegen den § 218 verbunden ist. Dabei war es nicht Egoismus, der die Frauen trieb, sondern ein Selbstbestimmungsrecht, das ihnen in vielerlei Hinsicht abgesprochen wurde. Sie wollten kein Objekt mehr sein, sie wollten nur die Kinder, die sie sich selbst wünschten, und sie wollten mehr über ihren Körper wissen, denn das Wissen darüber war ihnen vorenthalten worden. „Obgleich sich die Aktivistinnen über noch diffuse Ziele und unklare Strategien nicht verständigen können, sind sich doch alle in ihrem radikalen Einspruch gegen die wenigen, engen, für Frauen vorgesehenen Lebenswege einig.“118Holland-Cunz: Die alte neue Frauenfrage, S. 142
Der § 218 ging noch auf das Jahr 1871 zurück und war schon in den 1920er-Jahren von Frauen, linken Parteien und Expert*innen bekämpft worden. Ohne Erfolg. 1935 und 1943 war er sogar noch erheblich verschärft worden. Diese verschärften Regelungen waren von den Alliierten 1945 außer Kraft gesetzt worden.
Im Zuge der Bekämpfung des § 218 geriet auch wieder die Heimunterbringung, vor allem der Mädchen, in den Fokus. Die „Aktion 218“ des Sozialistischen Frauenbundes wies in einem Flugblatt gegen Fürsorgeerziehung darauf hin. Ulrike Meinhof hatte sich dem schon einige Jahre vorher in „Bambule“ angenommen, der fertige Film war an dem vorgesehenen Termin in der ARD im Mai 1970 nicht ausgestrahlt worden, weil Ulrike Meinhof zehn Tage vorher nach einer Schießerei in Folge der Gefangenenbefreiung von Andreas Baader, an der sie beteiligt war, aus dem Fenster des Instituts für Soziale Fragen in Berlin-Dahlem gesprungen und in den Untergrund gegangen war.
Die Ausbildung in den Westberliner Heimen war katastrophal. Es waren Berufe des 19. Jahrhunderts, die den Mädchen zugemutet wurden, 50 Prozent mussten als Wäscherinnen arbeiten.
In Berlin waren zu der Zeit rund 10.000 Minderjährige unter 16 Jahren unter Pflegeaufsicht, davon 3.464 aus unehelichen Beziehungen. 4.860 lebten in Berliner Heimen, 1.800 waren in der Bundesrepublik untergebracht, 90 Prozent stammten aus Arbeiterfamilien. „Heimkinder sind in der Regel ungewollte Kinder. Soziale Gründe zwangen die Mutter oder die Eltern, ihr Kind in ein Heim zu geben, häufig wurde vorher der Antrag auf legale Schwangerschaftsunterbrechung abgelehnt oder die Frau hat es erst gar nicht gewagt, einem Arzt ihr Anliegen vorzutragen.“119FFBIZ Re. 400 Berlin 20 (1) Die meisten Heimerzieher*innen waren zu dieser Zeit schlecht ausgebildet, waren vorher Boxer, Polizist*innen oder Gefängnisaufseher*innen gewesen. Es dauerte viele Jahre, ehe sich diese Situation änderte, auch dank neuer Mitarbeiter*innen aus der 68er-Bewegung. Eine von ihnen war Barbara Huffschmid, die im Aktionsrat für die Befreiung der Frauen mitgemacht hatte und dank der Betreuung ihrer Tochter in einem Kinderladen in einem Heim anfangen konnte zu arbeiten: „Die waren ja damals auch noch sehr autoritär strukturiert. Ich hab versucht, die antiautoritäre Sichtweise in die Heime reinzutragen, hab aber sehr bald lernen müssen, dass das nicht geht, weil da Kinder untergebracht sind, die ganz klar Strukturen brauchen, weil sie aus einer chaotischen Welt kommen, die sie kaputt gemacht hat.“120Annett Gröschner: Gespräch mit Barbara Huffschmid, 20.12.2016, Manuskript. Die meisten, die Anfang der 1970er Jahre den „Marsch durch die Institutionen“ antraten, brauchten einen langen Atem. Veränderungen waren schwer durchzusetzen und brauchten Jahre. Da war es mit Demonstrationen nicht getan. Aber sie waren ein guter Anfang, denn sie brachten Aufmerksamkeit. In diesem Fall war die 68er-Bewegung durchaus erfolgreich.
Andere, wie Helke Sander in ihrem Film über den § 218, wiesen darauf hin, dass Ärzte mit illegalen Abtreibungen Vermögen verdienten, eine Geldquelle, die bei einer Freigabe im Handumdrehen versiegt wäre.
Schon in der Großen Koalition von 1969 hatte es Überlegungen über die Abschaffung des § 218 gegeben. Der sozialdemokratische Bundesjustizminister Gerhard Jahn hatte eine Reform in Aussicht gestellt, war aber an Christdemokrat*innen, konservativen Ärzt*innen und dem Vatikan gescheitert. Nach dem Bekenntnis im Stern und trotz nicht weniger Attacken gegen die Protagonistinnen wuchs die Zustimmung für ein liberales Abtreibungsrecht, es waren mehr dafür als dagegen. In zwanzig Städten verbreitete sich die „Aktion 218“. „861.000 Menschen forderten, den § 218 ersatzlos zu streichen. 2.345 Frauen hatten den Appell ,Wir haben abgetrieben‘ unterzeichnet. 973 Männer hatten bekannt, ,Komplize‘ bei einer Abtreibung gewesen zu sein.“121Mika: Alice Schwarzer, S. 114. Mit der sozialliberalen Koalition ab 1972 nahm sich die Politik aufgrund der Frauenproteste, auch in den eigenen Reihen, des Themas an. Die mit unendlich vielen Demonstrationen, Kampagnen und Diplomatien erkämpfte und im Juni 1974 im Bundestag beschlossene Fristenlösung hielt dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nicht stand. Am 25. Februar 1975 wurde sie für verfassungswidrig erklärt. Eine mehr als herbe Enttäuschung. Erst Anfang der 1990er Jahre geriet der Paragraf wieder in die Diskussion, im Zuge der Angleichung der Rechtsverhältnisse zwischen der BRD und der DDR. Er wurde auch da nicht abgeschafft, nur modifiziert – eine Niederlage diesmal der ostdeutschen Frauenbewegung, die sich zurück im Mittelalter wähnte, hatten die Frauen in der DDR doch zwanzig Jahre mit einer Fristenlösung gelebt. Abtreibung ist 40 Jahre später immer noch rechtswidrig, kostet Geld und verlangt eine Pflichtberatung mindestens drei Tage vor dem Eingriff. Ärzt*innen, die eine illegale Abtreibung vornehmen, drohen bis zu drei Jahre Gefängnis, Schwangeren ein Jahr. Die öffentliche Information über Abtreibung ist verboten. Ein Verstoß dagegen ist strafbar, wie es die Gynäkologin Kristina Hänel 2017 erfahren musste, als sie wegen angeblicher Werbung von einem Gießener Gericht verurteilt wurde und vielen Menschen vor Augen führte, dass der Kampf um das Recht auf Abtreibung nach wie vor nicht gewonnen ist.
Die Fristenlösung von 1972
S. 218 – 220
1972 wurde in der Volkskammer der DDR die Fristenlösung beschlossen, mit dem etwas zweifelhaften und wissenschaftlich nicht haltbaren Titel „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“, als könne Schwangerschaft mal kurz unterbrochen und zu anderer Zeit fortgesetzt werden. Der § 218 existierte zu dieser Zeit auf dem Boden der DDR-Verfassung nicht mehr. Seit September 1950 war es § 11 des Gesetzes über den Mütter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau. Anders als beim Familiengesetz von 1965 gab es vorher keine Diskussionen darüber und – ungewöhnlich für die Gesetze nur abnickende Volkskammer – konnte das Gesetz nur mit einer knappen Mehrheit beschlossen werden, weil es einige Abgeordnete, vor allem der CDU, nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten und meinten, es würde fortan eine Abtreibungsmode geben. Ulrike Busch schrieb 1991 angesichts der drohenden Wiedereinführung des § 218 auf dem Territorium der Ex-DDR rückblickend über die Einführung der Fristenregelung „von oben“: „Die Bevölkerung war überrascht, Ärzte und Fachgremien waren verdrossen, wie wenig ihre Meinung gefragt worden war. Ein öffentlicher Entscheidungsfindungsprozeß fand kaum statt, ebensowenig eine öffentliche Diskussion zum Schwangerschaftsabbruch in seinem Für und Wider – ein Fehler, der bis in die heutige Zeit hinein wirkt. Selbst in der Wortwahl des Gesetzestextes wird deutlich, wie stark das Defizit an einem souveränen Umgang mit dem Problem blieb (Schwangerschaftsunterbrechung anstatt -abbruch).“255Ulrike Busch: Der Fortschritt darf nicht zum Rückschritt werden. Erfahrungen mit der Fristenregelung in der Ex-DDR, in: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen, Heft 9 (1991).
Das neue Gesetz ermöglichte Frauen, über das Austragen eines Kindes selbst zu entscheiden und bis zur 12. Schwangerschaftswoche einen Abbruch vornehmen zu lassen, der von der Sozialversicherung übernommen wurde. Auch die Pille wurde kostenlos abgegeben. Das war nicht ohne politisches Kalkül im Kalten Krieg. Letztendlich haben die Frauen der DDR das Recht auf Abtreibung nicht selbst erkämpft, sondern in erheblichem Maße von den protestierenden Frauen jenseits der Mauer profitiert, die massiven Druck auf ihr Parlament und ihre Regierung ausübten. Es gab auf Seiten der DDR-Macht die Angst, dass für diese Proteste die Mauer nicht hoch genug war, dass auch Frauen der DDR laut ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern könnten.
Also kam das Glück von oben. Begründet wurde es mit der „Einsicht, dass es nicht anging, Frauen im modernen Arbeitsleben ebenso zu fordern wie Männer und sie gleichzeitig mit Hilfe eines 100-jährigen Strafparagrafen zum Kinderkriegen zu zwingen. Die persönliche Würde jeder Frau ebenso wie ihr Recht, ihren Lebensplan unabhängig von biologischen Zuständen selbst zu bestimmen, wurde mit diesem Gesetz zum ersten Mal in der deutschen Geschichte staatlich anerkannt. Dieses Recht hat einen wesentlichen, selbstverständlichen Teil der Identität von Frauen ausgemacht. Und dennoch: Die Mündigkeit, über dieses Gesetz mitzuentscheiden, öffentlich das Für und Wider zu diskutieren, wurde ihnen nicht zugestanden“,256Kirsten Thietz (Hg.): Ende der Selbstverständlichkeit? Die Abschaffung des §218 in der DDR, Berlin 1992, S. 138. schrieb Kirsten Tietz nach der Wende, als der Kampf um diese wichtige Errungenschaft die Ressourcen der Frauen, nicht nur der Feministinnen, verbrauchte, die sie für anderes besser hätten gebrauchen können. Vielleicht war der Widerstand der Ostfrauen gegen die Wiedereinführung des § 218 auch deswegen keine breite Bewegung, weil es kein erkämpftes Recht war. Der Widerstand war drastischer: Sie traten in den Gebärboykott.
Wer wissen will, wie es mit der Frauenfrage Ende der sechziger, Anfang der 1970er Jahre aus Sicht von Frauen in der DDR bestellt war, sollte den Roman „Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“, der auch von westdeutschen Feministinnen wie Alice Schwarzer hochgeschätzten Irmtraud Morgner lesen. Dort erwacht Beatriz de Dia aus 800-jährigem Zauberschlaf und beschließt, ins gelobte Land für Frauen zwischen Elbe und Oder zu reisen, um dort auf die Spielfrau Laura zu treffen, Diplomgermanistin, Bauarbeiterin, S-Bahn-Triebwagenführerin und Spielfrau, die sich mit den diversen Problemen des real existierenden Sozialismus herumschlägt. Es ist auch formal ein moderner Roman, der mit Dokumenten arbeitet, einschließlich des vollständigen Abdrucks der Rede des Gesundheitsministers vor der Volkskammer am 9. März 1972, warum es ihm als Mediziner so wichtig ist, den Frauen Handlungsfreiheit zu geben. Berühmtestes Kapitel ist „Kaffee verkehrt“, in der eine Frau die Rolle eines Kerls übernimmt: Pöbeln, Saufen, Männer anmachen und beleidigt sein, wenn sie nicht so wollen, wie man sich das vorstellt. Immer noch und immer wieder aktuell, auch wenn Irmtraud Morgner im Moment vergessen scheint und die Reduktion ihres Werks allein auf die feministische Komponente ihm eher geschadet als genützt hat.
Anfang der 1970er Jahre galt in der offiziellen Politik der DDR die Frauenfrage als gelöst. Ähnliches hören Feministinnen heute auch wieder, indem behauptet wird, der Feminismus habe alles erreicht, was nichts weiter heißt, als dass das Uneingelöste aus dem gesellschaftlichen in den privaten Bereich geschoben wird. Selber Schuld, wenn du es nicht packst. Streng dich mehr an! In ihrer Untersuchung prägte Renate Ullrich einen wichtigen Satz, der für Ost und West, Vergangenheit und Gegenwart gilt, ein Satz für das feministische Poesiealbum: „Die bisherige Geschichte zeigt aber, daß die Geschlechterproblematik nicht zu lösen, sondern ein fortgesetzter dialektischer Widerspruch ist, der permanent verhandelt werden muss und produktiv, aber auch kontraproduktiv gehändelt werden kann und gehändelt wird.“257Ullrich: DDR-Frauen, S. 247.
Gab es Mitte der sechziger Jahre im an der Akademie der Wissenschaften der DDR angesiedelten wissenschaftlichen Beirat „Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft“ theoretische Ansätze, die einem linken Feminismus nahekamen, wenn sie denn weiterentwickelt worden wären, so waren die 1970er Jahre frauenpolitisch ein Rückschritt zu tradierten Geschlechterrollen. Die im VIII. und IX. Parteitag 1972 und 1976 beschlossenen „sozialpolitischen Maßnahmen“ räumten den Müttern mehr Zeit für die Kinderbetreuung ein. Zwar hatten auch die Väter oder Großeltern die bezahlte Betreuungszeit nach der Geburt eines Kindes nehmen können, aber es tat kaum jemand. Sie wurde dann auch umgangssprachlich Mütterjahr genannt. Alle unterstützenden Maßnahmen richteten sich auf die Kleinfamilie. Es ging vor allem um die Steigerung der Geburtenrate. Dabei wurden patriarchale Verhältnisse wieder verfestigt. Die Frau sollte trotz Vollberufstätigkeit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter gerecht werden. Von den Vätern war wieder nicht mehr die Rede. Frauen bekamen einmal im Monat einen Haushaltstag, also waren sie auch den ganzen Monat über für die Hausarbeit zuständig. War in der in den sechziger Jahren noch existierenden Zeitschriften- und Fernsehwerbung auch mal ein Mann vor der Waschmaschine zu sehen gewesen, der angab, gerne mit Maschinen zu arbeiten und deshalb die Wäsche zu machen, standen in den 1980er Jahren wieder eher Frauen vor Küchengeräten, die, wenn sie kaputt gingen, wochenlang in den Dienstleistungszentren, auch Komplexannahmestellen genannt, auf ihre Reparatur warteten. Auch wurde vermehrt Teilzeitarbeit erlaubt – für Mütter, was letztendlich zu Abzügen bei der Rente führte, vor allem nach den westdeutschen Rentenberechnungen, die für die in den 1970er Jahren jungen Frauen entscheidend sind.
Am Ende der DDR konstatierte Ina Merkel: „Heute ist es nicht nur soweit, dass jede/r LeiterIn es tunlichst vermeidet, eine halbwegs anspruchsvolle Stelle mit dem Störfall Frau zu besetzen. Frauen müssen sich darüber hinaus den Vorwurf gefallen lassen, sie leisteten zu wenig und bekämen zuviel Unterstützung.“258Ina Merkel: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. Manifest, in: lila offensive (Hg.): Frauen in die Offensive, S. 22.
Was heißt Feminismus heute?
S. 268-273
In der Gegenwart bleibt eine zentrale Frage: Bedeutet Feminismus ein Eliteprojekt von gut ausgebildeten Frauen bürgerlicher Herkunft, die den gleichen Zugang zu den Machthebeln in Wirtschaft und Politik haben wollen und nur durch die Tatsache, dass in ihrer Geburtsurkunde „weiblich“ steht, daran gehindert werden, durch die gläserne Decke zu stoßen? Oder ist Feminismus ein Projekt zur Verbesserung der Lebensbedingungen aller, nicht nur der Frauen? Wird die Bewegung so verstanden, muss viel mehr in die Bilanz einbezogen werden – zum Beispiel, dass Frauen nur über ein Prozent des Besitzes am Weltvermögen verfügen und die Lebensbedingungen der moldawischen Putzfrau, die der CEO eines DAX-Konzerns den Rücken freihält und dafür ihr Kind monatelang nicht sieht, mitbedacht werden müssen. Schon Johanna Elberskirchen hatte die Problematik vor hundert Jahren so formuliert: „Feministisch sein heißt keineswegs à tout prix ein Recht für eine kleine Anzahl Frauen auf Kosten der anderen Frauen ergattern zu wollen – feministisch sein, das heißt immer nur für Gesamt-Befreiung des gesamten weiblichen Geschlechts kämpfen.“330http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/johanna-elberskirchen/ (Zugriff 12.12.2017). Auch die junge Berliner Radikalfeministin Luise Meier sieht den Marsch durch die Institutionen an die Spitze im Office-Outfit heutzutage eher kritisch: Lieber eine neue Valerie Solanas als einen Feminismus, „der niemanden verunsichern will, der hier und dort eine kleine Veränderung erringen will und auf jeder Stufe des Kampfes die harmonische Vereinbarkeit mit den Interessen der Gegner sucht.“ Er „wird immer nur die Brotkrumen aufsammeln, die die Mächtigen für entbehrlich halten“.331Luise Meier: Nie wieder auf Daddys Schoß, in: Freitag Nr. 16 (2018), S. 11.
Die zentrale Differenz benannte Antje Schrupp 2009 so: „Nein, ich möchte lieber dabei bleiben, dass es im Feminismus nicht darum geht, ‚Frauen nach oben‘ zu bringen, sondern darum, die Logik des ‚oben‘ und ‚unten‘ in Frage zu stellen. Die bessere Position ist ,dazwischen‘. Dort, wo ich etwas bewegen kann, mich aber nicht der Logik und den Kriterien einer Ordnung unterwerfen muss, von der wir im Prinzip längst wissen, dass sie gescheitert ist.“332https://antjeschrupp.com/2009/09/07/kann-eine-feministin-die-grunen-wahlen/ (Zugriff 12.12.2017). Und ja, wenn der Feminismus wirklich mehr will als vorsichtig anzuklopfen, muss er den Männern auch Privilegien nehmen.
Mag die Neue Frauenbewegung nur noch als eine von vielen existieren, so gibt es nach wie vor eine Basisbewegung von unten, wie die Genderforscherin Sabine Hark konstatiert. „Die institutionelle frauenpolitische Landschaft und das, was wir früher Subkultur nannten, ist einerseits ziemlich getrennt. Die sind heute in so einem Feministisch-Queer-Trans-Spektrum. Gleichzeitig ist es natürlich trotzdem sehr eng aufeinander bezogen, weil auch diese Orte viel vom Geld des Senats leben, weil es die unterschiedlichsten Nahtstellen gibt – ob es das Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen ist, was es ja immer noch gibt, was auch viele der Forderungen, die in der Trans-Queer-Szene entstehen, übersetzt in Politik. Es sind zwei Schienen, die nebeneinanderher laufen und doch auch – manchmal unsichtbar – verkoppelt sind.“333Annett Gröschner: Gespräch mit Sabine Hark, 1.3.2017, Manuskript.
Nivedita Prasad, Professorin für genderspezifische Soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule und viele Jahre in der Migrantinnenarbeit beschäftigt, sieht „eine große Distanz zur weißen Frauenbewegung, die der Meinung ist, ‚gender‘ ist die Hauptkategorie und alles andere ist Verrat. Ich hatte gedacht, dass auch diese Strömung sich weiterentwickelt. Das muss man erst einmal schaffen, 20 Jahre lang bestimmte Sachen einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen.“334FFBIZ: Gespräch mit Nivedita Prasad, 3.3.2016, Manuskript. Die Fokussierung auf Geschlecht als zentrale Kategorie lasse die Überschneidungen verschiedener Diskriminierungsformen außen vor.
Christina von Braun sieht das etwas anders: „Auch von feministischer Seite wird Kritik an der Kategorie Geschlecht vorgebracht. Der Vorwurf lautet, es handle sich um einen Verrat an der Frauenbewegung“, schreibt sie in dem 2017 in Anlehnung an das erste „Kursbuch Frauen“ von 1977 erschienenen „Kursbuch Frauen II“. „Zwar ist es richtig, dass die Geschlechterforschung seit etwa 20 Jahren das Gebiet der Frauenforschung erheblich erweiterte, indem sie auch ‚andere sozial wirksame Differenzen (wie Ethnizität, Klasse, Bildung, Alter, Gesundheit usw.)‘ in die Betrachtungen einbezog. Aber erstens entspricht der Zusammenhang zwischen diesen Kategorien der sozialen Realität. Und zweitens kenne ich selbst keine einzige Genderforscherin, die nicht zugleich auch in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit unterwegs wäre. Aus Gender und Feminismus einen Gegensatz zu machen, ist nicht sehr produktiv, verhindert aber nicht, dass die Gegner von Frauenforschung und Genderstudies beides in einen Topf werfen.“335Christina von Braun: Anti-Genderismus. Über das Feindbild Geschlechterforschung, in: Kursbuch 192: Frauen II, S. 32f. Auch Judith Butler hatte in den „Gender Troubles“ nicht gegen die Ziele des Feminismus polemisiert, sondern nur ihr Unbehagen an der Art und Weise, wie sie erreicht werden sollen, beschrieben. Es war ein Ausbruch aus dem binären Opfer-Täter-Denkmuster, den schon Christina Thürmer-Rohr in ihrem bei Erscheinen Ende der 1980er Jahre vieldiskutierten Buch „Mittäterschaft und Entdeckungslust“ anhand der Täterinnen im Nationalsozialismus analysiert hatte.336vgl. auch Tatjana Schönwälder-Kuntze: Antigones Verletzungen. Anmerkungen zum Gender Trouble bei Judith Butler, in: Kursbuch 192, S. 47.
Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen zeigt, dass endlich etwas aufgebrochen ist in der Frauenbewegung, vor allem im Schmelztiegel der Berliner Szene. Viel zu lange haben viel zu wenige Frauen „für alle“ gesprochen. Es gibt aber dieses ALLE nicht mehr, es gibt inzwischen Feministinnen, die Frauen mit Sternchen oder in Anführungsstrichen schreiben, um zu zeigen, wie viele verschiedene Leben sich hinter dem Begriff verbergen. Auch wird ein bisher öffentlich unhinterfragter Satz wie „Kein Mann hat eine Vulva“ heute laut und deutlich von Transmenschen infrage gestellt. Die Anführungszeichen „werden schon dadurch verstärkt“, schreibt Paula-Irene Villa, „dass empirisch ebenso trivial wie folgenreich gilt, dass Menschen nie nur Frau oder Mann sind. Egal, was man sich dazu anschaut oder in Anschlag bringt: Gene, Hormone, Praxen, Berufswahl, Mutterschaft, Lebenserwartung, Spitzensport – whatever: Immer, unausweichlich und – im Sinne der redlichen empirischen Beobachtung – unhintergehbar sind Menschen auch in komplexen, wir sagen heute: intersektionalen, Verhältnissen positioniert, in denen ihrerseits verschiedene Differenzen miteinander verschränkt sind: Klasse, Alter, Sexualität, Region, Bildung usw.“337Paula-Irene Villa: „Frauen“. Warum es sie gar nicht gibt und man trotzdem über sie redet, in: Kursbuch 192: Frauen II, Hamburg 2017, S. 104. Diese Auffassung führt aber zu der Angst vor allem älterer Feministinnen, die strukturellen und politischen Probleme von Frauen könnten verwässert werden im Sinne eines Neoliberalismus, der die Förderung von Frauen infrage stellt, weil die Besten sich schon von alleine durchsetzten. Auch der Opferdiskurs stört viele ältere Feministinnen, die Triggerwarnungen und geschützten Räume, die Sprechverbote, weil sich jemand verletzt fühlen könnte. Die Frauen der Zweiten Frauenbewegung waren angetreten, die Welt zu verändern, sie gerechter und weiblicher zu machen und sich nicht mit den Schrammen und Blessuren aufzuhalten, die sie sich bei diesem Kampf mit einem mächtigen und nicht zimperlichen Gegner einfingen. Helke Sander, die Aktivistin der ersten Stunde, hat immer wieder betont: „Wir hatten nicht im Entferntesten die Vorstellung, dass wir Opfer sein könnten, sondern ganz im Gegenteil, wir wollten ausprobieren, welche Macht wir haben.“338Kätzel: Die 68erinnen, S. 171.
Inzwischen kommen die wenigsten öffentlichen Institutionen mit der Marginalisierung von Frauen mehr durch. Eine 50-Prozent-Bewegung fragt nach einer ausgeglichenen Zahl von Frauen auf Podien, in Talkshows und Aufsichtsräten, es gibt Pro-Quote-Bewegungen, die die Förderung von Frauen vor allem in Kultur und Medien fordern, im Auftrag der Staatsministerin für Kultur wurde der Anteil von Frauen in den Kulturinstitutionen gezählt und für zu gering befunden. Im Netz tobt eine heftige Genderdebatte, die nicht mehr ortsgebunden ist. Das Fluide der Geschlechter verursacht eine zutiefst irrationale Angst und erschüttert, anders als die Anliegen des klassischen Feminismus, vermeintliche Grundsicherheiten einer Gesellschaft, die immer noch ein eindeutiges „entweder … oder“, Mann oder Frau dem Fließenden der Geschlechter den Vorzug geben. Etwas, woran man sich festhalten kann. Sobald diese Gewissheiten erschüttert werden, gerät vermeintlich das ganze Leben in Unordnung. Und das macht vielen Angst, auch denen, die sich politisch nicht rechts einordnen. Darüber hinwegzugehen, hieße, die Realität zu missachten, in der im Moment vieles ins Rutschen gerät.
Ob der junge Feminismus sich seine Offenheit bewahren kann oder dogmatisch wird, ist noch nicht entschieden. Manchmal hat es aber den Anschein, es wäre gut für die Anhänger*innen, sich etwas mehr in der Geschichte der Zweiten Frauenbewegung umzusehen, um dieselben Fehler aus Unwissenheit nicht noch einmal zu machen, mit vielleicht schlimmeren Konsequenzen. Anlässlich „100 Jahre Frauenwahlrecht“ hat Antje Schrupp im Freitag angemerkt, dass die feministische Bewegung viel zu verlieren hat, wenn sie sich nicht auf die Systemfrage besinnt: „Die meisten Feministinnen dachten allerdings schon immer weiter als bloß bis zur Gleichheit mit den Männern. Sie stellten die Systemfrage. Sie pochen darauf, dass es kein sinnvolles politisches Ziel ist, Frauen und Männer innerhalb einer strukturell ungerechten Welt gleichzustellen. Sie weisen darauf hin, dass der Abstand zwischen Reichen und Armen nicht weniger schlimm wird, wenn sich beides fifty-fifty zwischen Frauen und Männern verteilt, und dass die Abwertung von Care-Arbeit immer Schaden anrichtet, auch wenn mehr Männer sie erledigen. Und diesen Feministinnen ist natürlich auch klar, dass eine Frau als Präsidentin nichts bringt, wenn sie nur ihren männlichen Vorgängern nacheifert.“ Sie verweist auf die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte, die einen Rechtsruck erst möglich machten. „Der neoliberale Umbau der Wirtschaft seit den 1990er Jahren hat tatsächlich ganz skrupellos feministische Argumente instrumentalisiert, um die weibliche Arbeitskraft dem Kapital verfügbar zu machen. Es ist ein reales Versäumnis der staatlich administrierten Gleichstellungsarbeit gewesen, die problematischen Aspekte dieser Entwicklung nicht laut genug kritisiert zu haben. Im Gegenteil: Nicht wenige Frauenbeauftragte haben in Reden dafür geworben, mehr Frauen in Aufsichtsräte zu bringen, damit die Wirtschaft noch mehr brummt!“339https://www.freitag.de/autoren/antjeschrupp/achse-des-hasses (Zugriff 13.4.18).
Der neoliberale Umbau der Gesellschaft hat zu einer Beschleunigung des Lebens geführt, bei immer weniger Möglichkeiten, den Lebensunterhalt mit nichtentfremdeter Arbeit zu verdienen. Erwerbsarbeit und Familienarbeit sind unter den gegebenen Bedingungen nur mit großer Selbstausbeutung zu vereinbaren. Manche Frauen sind dann auch für eine rechtspopulistische Rhetorik empfänglich, die ihnen ein schönes und geruhsames Leben im Heim und am Herd verspricht.
In ihrem sehr lesbaren und sich quer zu den feministischen Diskursen bewegenden Essay „Sieben Irrtümer über Frauen, die denken“ konstatiert Beatrix Langner heute, zwanzig Jahre nachdem Susan Faludi den „backlash“ diagnostizierte, eine ähnliche Konstellation als Gefahr und nennt das Phänomen die „Sehnsucht nach den Milchschaumbädern“: „Es wäre doch jammerschade, wenn der lange Weg der befreiten Frau von den Sozialistinnen zu den Furien, den Amazonen, den Hexen des Altfeminismus, von den Existentialistinnen zu den androgynen Mystikerinnen der beat generation, von Janis Joplin zu Madonna und Lady Gaga, vom Differenzfeminismus zum Post- und Popfeminismus, von der sexuellen Revolution zum Sextremismus nichts weiter als die sehr umständliche historische Umleitung in die ultimativ befreite Zone sanfter Frauenmacht gewesen wäre, das verheißene Land der Milchschaumbäder, Honigmasken und Topquoten. Denn dort gibt es ein merkwürdiges Ding, das sich emanzipatorischen Projekten mutig in den Weg stellt, ein Ding mit Maulwurfsaugen, das sich seiner Befreiung von der männlichen Tyrannei von jeher mit besorgtem Blick entzieht: die Hausfrau.“340Beatrix Langner: Die 7 größten Irrtümer über Frauen, die denken, Berlin 2017, S. 157.
Ob Gender oder Feminismus – die Errungenschaften der Frauenbewegung sind durch das Erstarken rechtskonservativer und nationalistischer Kräfte nicht nur in Deutschland, sondern in allen Demokratien bedroht. Ihr Ziel ist, gesellschaftliche Zustände wieder zu etablieren, die durch die 68er-Bewegung infrage gestellt und mit langem Atem abgeschafft wurden. Das heißt, zurück zur Kernfamilie, Aufwertung des Mannes und Rückkehr des Nationalismus, Abwertung der parlamentarischen Demokratie, Umschreiben der Geschichte als eine von Führern (ohne Gendersternchen), Aufwertung der Religion und ihrer restriktiven Gesetze für Frauen, kurzum die Rückkehr des Patriarchats in Gesellschaft und Gesetzgebung, die Rückkehr zum autoritären Staat, hin zu einem nationalen oder gar völkischen Frauenbild. Wenn wir in der Bundesrepublik auch noch um einiges entfernt sind von einer Mehrheit für so einen konservativen Umbau der Gesellschaft, gibt es doch genügend Versuche, Feminist*innen, vor allem im Netz, mundtot zu machen, die Rechte von Frauen zu hinterfragen oder gar Frauen direkt anzugreifen. „Wenn Feminismus bedeutet – meine Definition –, dass alle Menschen die gleichen Rechte und Freiheiten haben sollten, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität und ihrem Körper, dann ist diese Haltung unvereinbar mit rechtem Denken“,341http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/feminismus-warum-rechte-nicht-gegen-sexuellegewalt-aufrufen-koennen-a-1191986.html (Zugriff 30.11.2017). so Margarete Stokowski in ihrer Spiegel-Kolumne angesichts der Versuche von Frauen der rechten Identitären Bewegung, der #MeToo-Bewegung einen Hashtag gegen Gewalt von Migranten an Frauen entgegenzusetzen.
Die Pfarrerin Ruth Misselwitz hat große Befürchtungen bezüglich der Frauenrechte in einer neonationalistischen Welt: „Das ist ein ganz dünnes Eis, auf dem wir laufen, das kann ganz schnell einbrechen. Wir erleben es jetzt ja mit Donald Trump und diesen ganzen rechten Bewegungen: Die sind ja auch frauenfeindlich.“342Annett Gröschner: Gespräch mit Ruth Misselwitz, 2.3.17, Manuskript. Antje Schrupp sieht das ähnlich: „Die amerikanische Präsidentschaftswahl war insofern ein doppelter Wendepunkt: In ihr wurde nicht nur klar, dass die Freiheit der Frauen keine Naturnotwendigkeit ist, sondern ständig in Gefahr steht, beschnitten zu werden, dass alle Errungenschaften nur erhalten werden, wenn sie im gesellschaftlichen Leben verankert und konsequent gegen Angriffe verteidigt werden. Es wurde gleichzeitig klar, dass die Frauenbewegung wieder radikaler werden muss, dass der bloße Wunsch, bei der Politik der Männer mitmachen zu wollen, heute wirklich nicht mehr ausreicht. Feminismus ist nicht bloß für das Verhältnis der Geschlechter zuständig, sondern für die Welt insgesamt. Denn in einer unfreien Welt können auch die Frauen nicht frei sein.“343https://www.freitag.de/autoren/antjeschrupp/achse-des-hasses
In den letzten Jahrzehnten sind in der Bundesrepublik viele Gesetze zugunsten der Geschlechtergerechtigkeit geändert worden. Bei anderen passiert nichts, dazu gehören die Paragrafen 218 und 219, um die ein Burgfrieden herrscht, zu fragil scheint der ausgehandelte Kompromiss der 1990er Jahre. Im Dezember 2017 wurde die Gynäkologin Kristina Hänel von einem Gießener Landgericht zu einer Strafzahlung von 6000 Euro verurteilt, weil sie nach Auffassung des Gerichtes auf ihrer Homepage für Abtreibung geworben hatte, ein Verstoß gegen den § 219a. Sie hatte nichts weiter gemacht, als Frauen über den Schwangerschaftsabbruch zu informieren. Viele waren schockiert nach diesem Urteil, sie dachten, Abtreibung und das Sprechen darüber seien legal. Inzwischen gibt es ein breites Bündnis aus parlamentarischen und außerparlamentarischen Stimmen, unter anderem die ÜPFI, die die Abschaffung dieses Paragrafen fordern.