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Die Proll Lesbengruppen

  • Dr.in Julia Roßhart
  • Martina Witte
Essay

Zuerst veröffentlicht
Digitales Deutsches Frauenarchiv

Prololesben bilden Banden: In den 80er- und 90er-Jahren gründeten sich autonome Proll-Lesbengruppen. Sie speisten Klassenherkunft in die Debatte um Unterschiede zwischen Frauen/Lesben ein. Mittels verschiedener Aktivitäten forderten sie bürgerliche Normen im Bewegungsalltag heraus.

schwarze Schrift auf weißem Hintergrund; zwei Figuren mit nach oben gestreckten Armen
„Vergleichbar mit der euro-zentristischen und patriarchalischen Weltsicht, die wir kritisierten, wirkte mitten unter uns politischen (lesbisch-feministischen) Autonomen, quasi unerkannt, eine weitere Dominanzkultur: die des Bildungsbürgertums.“Witte, Martina: Klassismuskritik und gelebte Umverteilung. Die Geschichte einer Berliner Prolo-Lesbengruppe, in: Rudolf, Christine et al. (Hg.): Schneewittchen rechnet ab. Feministische Ökonomie für anderes Leben, Arbeiten und Produzieren, Hamburg 2013, S. 82–90, hier S. 86.

Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre gründeten sich mehrere Proll-Lesbengruppen. Lesben, die beispielsweise in der Armutsklasse, in „Prolofamilien“Gitti / Erna / Lynda / Gabi: Prololesben, in: Burgmüller, Monika et al. (Hg.): Dokumentation der 2. und 3. Berliner Lesbenwoche 1986 und 1987, Berlin 1989, S. 180–188, hier S. 180 [FFBIZ, Bibliothek, E Rep. LES Ber]., auf Bäuer*innenhöfen, als Töchter von Fabrikarbeiter/innen oder Handwerker/innen oder in Heimen aufgewachsen waren, organisierten sich in separaten Kleingruppen. Die Beteiligten betrieben Selbsterfahrung, Analyse und Empowerment, mobilisierten weitere Proll-Lesben und intervenierten auf verschiedene Weisen anti-klassistischZum Begriff Klassismus (und zu ‚Klasse‘ im Kontext feministischer anti-klassistischer Kritik): Kemper, Andreas / Weinbach, Heike: Klassismus. Eine Einführung, Münster 2009; Roßhart, Julia: Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag. Anti-klassistische Interventionen in der Frauen- und Lesbenbewegung der 80er und 90er Jahre in der BRD, Berlin 2016. in die damalige Frauen- und Lesbenbewegung der BRD.

Ankerpunkt und Anlass für die Selbstorganisierung und die Bildung der „Bindestrich-Identität Prololesbe“Witte, Martina: Prolo-Lesben, in: Dennert, Gabriele et al. (Hg.): In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007a, S. 178–181, hier S. 178. waren eine ähnliche Klassenherkunft – in Abgrenzung zu „Lesben bürgerlicher Herkunft“Ebenda. – und damit zusammenhängende Diskriminierungserfahrungen im eigenen lesbisch-feministischen Bewegungsumfeld.

Mit ihrer Begriffswahl knüpften die Akteurinnen programmatisch an proletarische Bewegungen anWitte: Klassismuskritik und gelebte Umverteilung, S. 84.; im Sinne einer Wiederaneignung reagierten sie zugleich darauf, dass „für viele […] ‚Prolo‘ ein Schimpfwort ist“.Knupp-Rabe, Anna: Für manche sind es Brüche, für uns Aufbrüche. Die Geschichte einer Berliner Prololesbengruppe, in: Hügel, Ika et al. (Hg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus. Antisemitismus. Klassenunterdrückung, Berlin 1993, S. 43–48, hier S. 43. Die Begriffe „Prololesbe“ und „bürgerliche Lesbe“ wurden politisch und als Analysemittel verwendet, „um die Gegensätze besser herausarbeiten zu können“.Gitti / Erna / Lynda / Gabi: Prololesben, 1989, S. 181. Es ging weniger um die Erarbeitung trennscharfer Definitionen als vielmehr darum, einen identitätspolitischen Begriff zu schaffen, in dem sich alle Beteiligten wiederfinden konnten:

„We wanted […] also to find a word that includes all of us – from typical working class, from poverty class, from impoverished farms, and some even come from mixed middle and working class. Because that all would be too long, we called it prollo.“ Felicitas / Earthdaughter, Debby: Anonymous Money Distribution: Prolo Dykes Making Real Change, in: Sinister Wisdom, 1992, H. 45, S. 31 ff, hier S. 31.
Wir wissen bislang von vier Proll-Lesbengruppen: einer in Bochum, drei in West-Berlin. Material und Forschung liegen fast ausschließlich zu zwei Berliner Gruppen vor. An der einen waren Gitti, Erna, Lynda, Gabi und Uli beteiligt; die Gruppe existierte von 1987 bis mindestens 1989 (im Folgenden Proll-Lesbengruppe I genannt). In einer weiteren West-Berliner Gruppe waren ab 1989 für zwei Jahre Felicitas, Anna Knupp-Rabe/Adriana Stern, Martina Witte sowie drei bis sechs weitere Lesben aktiv (Proll-Lesbengruppe II); die Beteiligten waren weiß, mehrheitlich christlich sozialisiert, vereinzelt jüdisch; sie sind in der BRD aufgewachsen, die meisten studierten. Die dritte Berliner Gruppe, unter anderem beteiligte sich hier Malou Berlin, gründete sich zwischen 1987 und 1989; die fünf Aktivistinnen trafen sich mehrere Jahre regelmäßig. Die Bochumer Gruppe bildete sich 1989. Zu vermuten ist, dass weitere Gruppen existierten, deren Aktivitäten undokumentiert/unerforscht sind.

Bewegungsgeschichtliche Einbettung

Die Proll-Lesbengruppen waren Teil der feministischen Lesbenbewegung. So ging die Berliner Proll-Lesbengruppe II aus einem bundesweiten lesbischen Separatistinnentreffen in Bochum im Jahr 1989 hervorLesbisches Separatistinnentreffen 1, Plenum, Bochum 1989: Protokoll.: Infolge eines Klassenkonfliktes wurden dort lokale Proll- und MittelklassegruppenMittelklasse-Arbeitsgruppe beim Lesbischen Separatistinnentreffen 1, 3.9.1989 in Bochum: Protokoll. ins Leben gerufen.

Ein wichtiger bewegungsgeschichtlicher Hintergrund war die sogenannte Differenzdebatte der 80er- und 90er-Jahre: Innerhalb der Frauen- und Lesbenbewegung erstarkten Aktivitäten, die sich dem Problem der Unterdrückung zwischen FrauenLesben widmeten – und zwar nicht zuletzt bezogen auf den Bewegungsalltag und die feministischen Aktivistinnen selbst. Jüdische FrauenLesben, Schwarze FrauenLesben, Migrantinnen und FrauenLesben mit Behinderung bildeten teils eigene Gruppen und Netzwerke.Dennert, Gabriele et al. (Hg.): In Bewegung bleiben; Faber, Brigitte et al. (Hg.): 25 Jahre Bewegung behinderter Frauen. Erfahrungen, Anekdoten, Blitzlichter aus den Jahren 1981–2006, Kassel 2007; Piesche, Peggy (Hg.): Euer Schweigen schützt euch nicht. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland, Berlin 2012. Dass auch Klassenunterschiede das lesben- und frauenbewegte Miteinander prägten – diesem Problem widmeten sich, zusammen mit einigen anderen Akteurinnen*Roßhart: Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag., die Proll-Lesbengruppen.

Für die Berliner Proll-Lesben legen die Quellen nahe, dass sie über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügten und durch ihre Interventionen die politische ‚Szene‘ aufmischten – gegen alle Widerstände.

In Kleingruppen: Erfahrungsaustausch, Analyse, Empowerment

In ihrer jeweiligen Kleingruppe teilten die Akteurinnen Lebensgeschichten, betrieben Selbsterfahrung und Empowerment. Es ging um eine „Politisierung in Hinblick auf die eigene soziale Herkunft“Witte: Prolo-Lesben, S. 178.: Abwertung, Ausgrenzung und Verleugnung sowie damit verbundene Scham- und Minderwertigkeitsgefühle wurden als gemeinsame Erfahrung herausgearbeitet. Viele hatten in ihren Politgruppen abwertende Äußerungen über ‚Prolls‘ mitanhören müssen: Angehörige der eigenen Herkunftsklasse wurden als dumm, unwissend oder nicht ernstzunehmend abqualifiziert. Auch stellte sich heraus, dass die eigene Berufstätigkeit oder Armut die Teilnahme an politischen Veranstaltungen erschwerten oder unmöglich machten, ohne dass dies als strukturelles Problem anerkannt und angegangen worden wäre. Der lesbisch-feministische und/oder linke Bewegungsalltag wurde einer kritischen Analyse unterzogen, dominante Verhaltensweisen wurden als bürgerliche kenntlich gemacht: „Bürgerliche reden in der Öffentlichkeit“, „lang und viel […], sie bestimmen den Tonfall“; „[i]m Zusammenleben mit Bürgerlichen läuft das oft so, da[ß] wir die Zuhörerinnen sind, aber umgekehrt die Bereitschaft gar nicht da ist, uns zuzuhören […].“Gitti / Erna / Lynda / Gabi: Prololesben, 1989, S. 182 f.

In ihren Texten kritisieren die Proll-Lesbengruppen bürgerliche Normen aufs Schärfste und erteilen Anpassungsforderungen rund um Identität, Sprache und Verhalten eine radikale Absage: „[W]ir [wollen] gar nicht bürgerlich werden. Wir untereinander finden uns nämlich prima.“Ebenda, S. 185 Als notwendige politische Strategie wurde Selbstorganisierung stark gemacht – „Prololesben bildet Banden“Proll-Lesben: Flyer. –, denn: „Dadurch, dass Proll-Lesben sich zu wenig zusammentun, ist es möglich, daß die ‚szene‘ immer noch bestimmt wird von Mi.schi.-rede- und -verhaltensweisen [Mittelschichtsrede- und -verhaltensweisen; Anmerkung der Autorinnen]“Proll-Lesben: Flyer.. Für die Beteiligten hatte der Zusammenschluss empowernde Effekte: „Mein neues und anderes Selbstbewußtsein verdanke ich den Frauen in der Proll-Lesbengruppe.“Knupp-Rabe: Für manche sind es Brüche, S. 47.

Aktivitäten

Neben den regelmäßigen Treffen ist ein Bündel an Aktivitäten der Proll-Lesbengruppen bekannt. So bot erstens die Proll-Lesbengruppe I bei den Berliner Lesbenwochen 1987Gitti / Erna / Lynda / Gabi: Prololesben (Workshopankündigung), in: 3. Berliner Lesbenwoche, Programmheft, Berlin 1987, S. 32 [FFBIZ, Bibliothek, E Rep. LES Ber]., 1988Gitti / Erna / Lynda / Gabi / Uli: Prololesben, 1988, S. 31. und 1989Hering, Gabi / AG Prololesben: Prololesben bildet Banden … und auf der LW Arbeitsgruppen (Workshopankündigung), in: Programmheft der 5. Berliner Lesbenwoche, Berlin 1989, S. 61 [FFBIZ, Bibliothek, E Rep. LES Ber]. Workshops von und für Proll-Lesben an.

Zweitens gründete und verwaltete die Proll-Lesbengruppe II ein Umverteilungskonto: ein Konto, in das reichere Lesben einzahlten und von dem ärmere Lesben Geld abhoben, anonym. Bis zur Auflösung der Gruppe wurde so zwei Jahre lang erfolgreich Geld umverteilt.Ihrsinn-Redaktion: Praktische Anregungen – Prololesbenkonto: Ein Konto für Lesben in jeder Stadt, in: Ihrsinn – eine radikalfeministische Lesbenzeitschrift, 1994, H. 9, S. 23.

Drittens trugen die Gruppen ihre Analyse und Kritik in schriftlicher Form ‚nach außen‘. Der Text Prololesben der Proll-Lesbengruppe I lieferte eine Rückschau auf den gleichnamigen Lesbenwochen-Workshop im Jahr 1987; außerdem stellten die Akteurinnen darin ihre Gruppe vor, formulierten scharfe Kritiken an bürgerlichen Normen, wandten sich mobilisierend an andere Proll-Lesben und forderten bürgerliche Lesben auf, sich solidarisch zu verhalten.Gitti / Erna / Lynda / Gabi: Prololesben, 1989, S. 182. In einem Flyer der Proll-Lesbengruppe II ermutigten die Akteurinnen Proll-Lesben zur Selbstorganisierung: Klassenunterschiede würden innerhalb der linken lesbisch-feministischen „Politszene“ solange geleugnet und ein „Tabuthema“ bleiben, bis „von den ‚Unterdrückten‘ eine Auseinandersetzung erzwungen wird“.Proll-Lesben: Flyer. In einem Interview berichtete Felicitas über das Umverteilungskonto ‚ihrer‘ Gruppe.Felicitas / Earthdaughter, Debby: Anonymous Money Distribution. Nachträglich veröffentlichten die Aktivistinnen Adriana Stern (damals: Anna Knupp-Rabe) und Martina Witte Texte.Knupp-Rabe: Für manche sind es Brüche; Witte: Prolo-Lesben; dies.: Klassismuskritik und gelebte Umverteilung.

Viertens diente die Proll-Lesbengruppe II als praktisches Unterstützungsnetzwerk beim Umgang mit Behörden und Fragen der Existenzsicherung. Auch besuchten Proll-Lesben politische Veranstaltungen gemeinsam, um dort „in Aktion“ zu treten: „Wir lernten, uns dadurch nicht mehr mundtot machen zu lassen.“Knupp-Rabe: Für manche sind es Brüche, S. 47.

Fünftens waren Proll-Lesben maßgeblich an der Organisation der Lesbendemo im Jahr 1990 mit über 1.000 Teilnehmerinnen* beteiligt.Lesbendemo im Rahmen der Berliner Lesbenwoche, 3.11.1990 in Berlin: Aufruf.

Sechstens war eine (bestehende oder situativ gegründete) Proll-Lesbengruppe in die Vorbereitung des zweiten lesbischen Separatistinnentreffens im Jahr 1990 involviert.Lesbisches Separatistinnentreffen 2, 1990, Vorbereitungstreffen: Protokoll.

Siebtens produzierte die Proll-Lesbengruppe II einen dokumentarisch-fiktionalen Film, der allerdings nie öffentlich gezeigt wurde.

Achtens scheint eine Proll-Lesbengruppe für die sogenannte ‚Aldi-Küche‘ bei den Frauenwiderstandscamps im Hunsrück, mit denen gegen Rüstungsanlagen protestiert wurde, verantwortlich gewesen zu sein – eine Campküche, bei der das Essen besonders günstig war.Leidinger, Christiane: Gruppeninterview zu den Frauenwiderstandscamps im Hunsrück mit Anne, Astrid, Christl, Dorothee, Inge, Maria, Martina, Pia, Ulrike (Hunsrück/Köln) am 10.1.2010 in Simmern, geführt von Christiane Leidinger [unveröffentlichte Audioaufnahme].

Weitere Quellen und Forschungsstand

Neben den bisher ausgewiesenen liegen folgende weitere Quellen vor: Protokoll eines Interviews von Julia Roßhart mit Martina Witte zur Proll-Lesbengruppe IIWitte, Martina: Interview, geführt von Julia Roßhart am 22.5.2012 in Berlin, Protokoll.; Auszüge eines E-Mail-Austausches zwischen Martina Witte und Julia RoßhartWitte, Martina / Roßhart, Julia: E-Mail-Korrespondenz, Berlin 2012–2015.; Themenprotokolle zu zwei „Störenfrida-Erzählcafés“, wo Berliner Proll-Lesbengruppen Erwähnung fandenStörenfrida-Erzählcafé mit Aktivistinnen der autonomen FrauenLesben-Bewegung, am 28.3.2013 und 28.11.2013 in Berlin: themenspezifische Protokolle von Julia Roßhart.; Auszüge zweier E-Mails von Malou Berlin zur Proll-Lesbengruppe IIIBerlin, Malou / Roßhart, Julia: E-Mail-Korrespondenz, Berlin 2016–2017.; Protokolle der Gruppentreffen der Proll-Lesbengruppe IIProll-Lesben: Protokolle.; ein Interview zur Proll-Lesbengruppe II mit Martina Witte, geführt von Tanja Abou.Witte, Martina: Interview, geführt von Tanja Abou, Berlin 2012 [unveröffentlichte Audioaufnahme]. Bewegungsgeschichtliche Forschung existiert bislang zu den Berliner Proll-Lesbengruppen I und II.Abou, Tanja: Prololesben und Arbeiter*innentöchter. Interventionen in den feministischen Mainstream der 1980er und 1990er Jahre, in: Kurswechsel, 2015, H. 4; Dennert, Gabriele et al. (2007b): Kämpfe und Konflikte um Macht und Herrschaft – Lesbenbewegung in der BRD der 80er Jahre, in: Dies. (Hg.): In Bewegung bleiben, S. 126–159, hier S. 136 f; Roßhart, Julia: Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag, S. 120–189.

Die Proll-Lesbengruppen können auch heutige queere, lesbische, feministische und linke Auseinandersetzungen inspirieren (Stichworte: Klassismus, Intersektionalität, Akademisierung, social justice). Auch deshalb ist eine weiterführende Aufarbeitung unbedingt wünschenswert.